Wir müssen jetzt zusammenhalten! Zur aktuellen Corona-Lage und Diskussion um das Infektionsschutzgesetz

Mich und meine Bundestagskolleg*innen erreichen derzeit äußerst viele Mails von Bürgerinnen und Bürgern, die sich im Zuge des Gesetzgebungsprozesses zum „Dritten Bevölkerungsschutzsgesetz“ bzw. Änderungen des Infektionsschutzgesetzes Sorgen und Ängste um Auswirkungen auf unsere Demokratie und Freiheitsrechte machen.

Als Abgeordnete des Deutschen Bundestages bin ich Vertreterin Ihrer und Eurer Interessen. Es ist mir besonders wichtig, darauf einzugehen und diese Stimmen ernst zu nehmen. Ich persönlich bin den GRÜNEN beigetreten, weil ich Freiheitsrechte und einen liberalen Staat immer für wichtig gehalten habe. Gleichzeitig bin ich in die Politik gegangen, weil ich tiefes Vertrauen darin habe, dass wir in der Demokratie über eine gemeinsame Gestaltung das Beste zum Wohle aller erreichen können – dazu aber auch der Austausch, das Abwägen sowie das Für-und-Wider in der Diskussion um die besten Argumente gehören. Einfache Antworten gibt es auch in der Politik selten.

In einer solchen schwierigen Entscheidungssituation befinden wir uns gerade ganz besonders. Wir sind mitten in der schwersten Pandemie seit über 100 Jahren. Derzeit werden viele Informationen – gerade auch über digitale Kanäle – gestreut, die eine Verharmlosung von SARS-CoV2-bzw. der daraus resultierenden Erkrankung Covid-19 darstellen. Einzig nachweisbar bleibt jedoch aufgrund der uns vorliegenden Daten, dass sowohl in vielen Staaten Europas als auch beispielsweise den USA ein deutlicher Anstieg an Todesfällen im Vergleich zu allen Vorjahreszeiträumen in Verbindung mit der Corona-Pandemie zu erkennen war und ist  (vgl. u.a. https://www.spektrum.de/news/statistik-verraet-starke-uebersterblichkeit-in-einigen-laendern-europas/1782107 oder https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2771761). Gleichzeitig haben wir bereits im Frühjahr mit zeitlich begrenzten Kontaktbeschränkungen und Schließungen alles dafür getan, in Deutschland nicht die Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems zu überschreiten. Diese liegen bei etwa 30.000 Betten auf den Intensivstationen, die zudem auch weiterhin für akute Notfälle jenseits der Corona-Pandemie vorgehalten werden müssen (U.a. auch deswegen ist Deutschland im internationalen Vergleich relativ glimpflich durch die „erste Welle“ von Infektion gekommen. Zahlreiche wissenschaftliche Studien bei vorherigen Epidemien (z.B. SARS, H1N1) sowie während der jetzigen Pandemie zeigen, dass „nicht-pharmazeutische Interventionen“, dazu gehören insbesondere das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sowie  Kontakteinschränkungen im öffentlichen Raum, das Infektionsgeschehen deutlich verlangsamen. Auf diese Weise kann die Gesundheit und das Leben vieler besonders gefährdeter Menschen geschützt werden. Eine aktuelle Untersuchung aus dem Lancet hierzu finden Sie hier: https://www.thelancet.com/journals/laninf/article/PIIS1473-3099(20)30785-4/fulltext.

Nun stehen wir wieder vor der schwierigen Situation, die Anzahl von Kontakten zu beschränken, um die akut steigenden Infektionszahlen von 15.000 bis über 20.000 Neuinfektionen täglich deutlich zu senken. Dazu haben sich die Ministerpräsidenten der Länder, die für die Umsetzung der Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes zuständig sind, mit der Bundesregierung am 28. Oktober zu neuen Kontaktbeschränkungen und Schließungen von Einrichtungen, u.a. der Kultur und Gastronomie, entschlossen. Es handelt sich  um deutlich weniger restriktive Maßnahmen  als noch im Frühjahr. Jetzt bleiben Schulen und KiTas sowie ein großer Teil des Einzelhandels weiter offen.

Auf der anderen Seite weiß ich um die extrem harten,  auch existentiellen Auswirkungen, die aktuelle Beschlüsse und alle seit dem Frühjahr geltenden Beschränkungen für viele Menschen im Land haben. Seien es die Soloselbstständigen – gerade auch in Kunst, Kultur und der Veranstaltungswirtschaft –, die vielen Millionen Menschen in Kurzarbeit, die Angestellten und Unternehmer*innen in der Gastronomie, Studierende oder Minijobber, die ihre Arbeit verloren haben und viele viele mehr. Als GRÜNE im Bundestag fordern wir daher deutliche weitgehendere Nothilfen, die über die Lösungen von Bund und Ländern hinausgehen; z.B. über einen fiktiven Unternehmerlohn für Selbstständige der Veranstaltungswirtschaft (https://www.gruene-bundestag.de/themen/kultur/schnelle-hilfen-fuer-die-rettung-der-veranstaltungswirtschaft), Entlastungen bei den Gewerbemieten (https://www.gruene-bundestag.de/themen/wirtschaft/mehr-fairness-fuer-gewerbemieten-im-shutdown) oder eine Freigabe des BAföGs (https://www.gruene-bundestag.de/themen/bildung/den-kopf-frei-haben-fuer-beste-bildung).

Gleichzeitig sind wir jedoch auch der Auffassung, dass wir – je länger die Pandemie andauert – die Entscheidungen über Maßnahmen wieder stärker in die Parlamente bringen müssen.  Unsere demokratischen Institutionen sind stark und können sich auch in der Krise beweisen.   Wir GRÜNE fordern, dass der Bundestag und die Parlamente der Länder wieder stärker einbezogen werden müssen, z.B. in die Entscheidung ob und wann eine epidemische Notlage vorliegt oder über die dann zu treffenden Maßnahmen. Wir befinden uns im achten Monat der Pandemie. Grundrechtseinschränkungen dürfen nicht mehr mit dem Argument der Eilbedürftigkeit über die Parlamentarier*innen hinweg entschieden werden. Das würde auch die Rechtssicherheit gegenüber den Gerichten erhöhen und einen Flickenteppich vermeiden. Ebenso braucht es eine klare geregelte Befristung der Maßnahmen und eine Aufhebung der einseitigen Verordnungsmöglichkeiten (Paragraf 5) des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Das haben wir auch in einer Debatte im Deutschen Bundestag deutlich gemacht und dazu stehen wir (siehe u.a. https://www.gruene-bundestag.de/themen/rechtspolitik/rechtsstaat-und-parlament-in-der-pandemie oder https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/239/1923980.pdf).

Ebenso schlagen wir die Einführung eines wissenschaftlichen Pandemierats vor, der mit einer vielfältigen Besetzung aus verschiedenen Disziplinen nicht nur eine Breite der wissenschaftlichen Expertise zu Pandemien abbilden kann, sondern auch den Bundestag sowie die Bundesregierung in ihrer Entscheidungsfindung kontinuierlich unterstützt. Darüber wollen wir den Diskurs versachlichen, Debatte ermöglichen, Transparenz herstellen und zu noch passgenaueren Lösungen in Lagen wie heute kommen (https://www.gruene-bundestag.de/themen/gesundheit/pandemierat-jetzt-gruenden).

Ich kann Ihnen und Euch allen versichern, dass ich persönlich und wir als GRÜNE im Bundestag uns auch weiterhin konstruktiv und kritisch in die Corona-Politik einbringen werden, gerade wenn sie Grundfreiheiten und Grundrechte betrifft. Ich bitte aber auch darum, dass wir solidarisch in der Krise bleiben. Solidarität ist das Gebot der Stunde: indem möglichst viele Menschen, möglichst einheitlich die Hygieneregeln einhalten, können wir die zweite Welle früh brechen. Und umso schneller werden wir auch wieder Normalität und jegliche Freiheiten, die unsere Gesellschaft ausmachen, zurückgewinnen können.